Wenn das Schlechtere das Bessere ist

Wir Fotografen leiden an GAS. Alle. Wobei man differenzieren muss, denn eigentlich leiden wir ja nicht darunter. Unsere Bankkonten leiden. Auch die Industrie und der Handel leiden nicht, aber das ist ein anderes Thema. Heute soll es darum gehen, wie man das gear acquisition syndrome in geregelte Bahnen lenken kann. Und weil ich meist aus meinem eigenen Nähkästchen plaudere, habe ich gleich ein schönes Beispiel parat.

Dies ist mein neues Objektiv*. Es handelt sich um ein Tamron 70-210 f4, was bedeutet, dass es eine durchgehende Blende von 4 hat. Nicht schlecht, aber auch nicht gerade der Burner. Wenn ich ehrlich bin, hätte ich gern das Tamron 70-200 f2,8 (G2) gehabt, es spricht eigentlich alles für dieses allseits hochgelobte Objektiv, auch das Preis-Leistungsverhältnis ist mit rund 1.200 Euro (Straßenpreis) sehr gut. Also eine Kaufempfehlung. Fast ein Muss für mich, die überwiegend bei schlechten Lichtverhältnissen fotografiert.

(*Sehen Sie mir bitte nach, dass es nur ein Schnappschuss mit dem Handy ist, ich gebe zu, ich hatte keine Lust, mein Studio aufzubauen.)

Jedes Pixel kostet Geld

Und doch habe ich mich für das Tamron 70-210 f4 entschieden. Bin ich geizig? Hmnjein. Ein bisschen. Kostenbewusst würde ich es nennen. Fotografieren ist sehr teuer, vor allem, wenn man es professionell betreibt und, wie ich, Fotobücher, große Wandbilder und digitale Fotos an Kunden mit hohen Ansprüchen verkauft. Da geht es nun einmal nicht ohne Pixelpeeping, was Kamera(s) und Objektiv(e) entsprechend – nun ja, teuer macht.

Dass man mit lichtschwachen Objektiven und Consumerkameras kreativ sein kann, steht außer Zweifel. Der Fotograf macht das Bild, die Technik ist nur das Werkzeug. Das ist bekannt. Doch ein Hufschmied wird anderes Werkzeug nutzen als ein Kunstschmied, um ein drastisches Beispiel anzuwenden. Es geht um Details, um Feinheiten, um den Look, um – Kunst. Berufs- und künstlerisch orientierte Fotografen achten auf Rauschverhalten, Freistellungsmöglichkeit und Bokeh, Auflösung und Dynamikumfang und vieles mehr, während das den Hobbyfotografen deutlich weniger interessiert als der Preis.

Höher, schneller, weiter?

Trotzdem schraube ich künftig an meine vollformatige Nikon D750 ein nicht ganz so lichtstarkes Telezoom? Ja. Weil es noch weitere Aspekte gibt als die oben genannten. Man mache sich einfach bewusst, wo, was und wie ich fotografiere:

  • Ich habe stets einige bis viele Kilometer zu Fuß zurückzulegen, bis ich vor Ort bin oder finde, was ich suche.
  • Meine Motive stehen in Wäldern weit abseits von Wegen, meist sogar erst nach dem Durch- und Überqueren von Dickicht, Morast, Totholz und anderem in stets unwegsamem Gelände. Und das sehr oft bei bei Regen, Schnee, Kälte, Hitze, Dunkelheit. Allein.
  • In das Gebiet, in dem ich fotografieren möchte, fahre mit mittlerweile fast ausschließlich mit dem MTB. (Natürlich kommt auch bei mir manchmal vorher das Auto zum Einsatz, aber nicht mehr bis zum Waldrand.)
  • Meinen Rucksack füllt nicht nur mein Fotoequipment plus Stativ, das außen befestigt ist, sondern auch allerlei „outdooriges“: Messer, Werkzeug, Erste Hilfe-Set, Getränk und Essen, Kleidung wie Ersatzsocken, im Winter Handschuhe, Mütze, Fleece und so weiter. Dazu kommt ggf. Videoequipment mit GoPro, Objektive, Filter und Gorillapod. Ich versuche zwar, die 10 Kilo nicht weit zu überschreiten; das gelingt mir jedoch nur im Sommer mit großer Selbstdisziplin.
  • Mein Körper ist nicht mehr jung und fit schon gar nicht. Diverse Erinnerungen an meine leistungssportliche Zeiten, die Folgen mehrerer Krebserkrankungen und nicht zuletzt eine Handvoll Titan in meiner Lendenwirbelsäule machen mich eigentlich untauglich für das, was ich tue. Ich tu’s trotzdem, muss aber ein bisschen auf mich achten.

Lange Rede …

Ich muss also auf’s Gewicht achten. (Ja, auch auf mein eigenes.) Und damit bin ich nach langer Rede nun endlich beim Sinn meines Beitrags: Es kommt eben nicht nur darauf an, das Beste vom Besten zu haben, wenn das für einen persönlich nicht das Ideale ist.

Für mich zählt neben Abbildungsleistung und Lichtstärke auch, dass das Objektiv, das ich nun erworben habe, 850 Gramm wiegt, das, welches im gern gehabt hätte, hingegen das Doppelte. Daneben ist es deutlich kompakter, nimmt also weniger Platz im ohnehin stets (aus Gewichtsgründen) zu kleinen Rucksack weg. Die Bildqualität des f2,8 ist professioneller Pixelpeeper zufolge nicht so viel besser als die des f4, dass sie das Gewichtsargument aus dem Rennen geworfen hätte. Und der Stabilisator soll sogar besser sein. Glauben Sie mir, ich habe alle Tests, Charts und Benchmarks studiert, bevor ich im Shop meines Lieblingsdealers Calumet auf den Kaufen-Button geklickt habe.

Jetzt ist es da und ich bin natürlich sofort damit in den Wald gestürmt. Mein Urteil fällt positiv aus. Es ist leicht und schlank, fast so scharf wie mein Sigma Art 24-120 f4 (welches wie alle aus der teuren Art-Reihe sensationell zeichnet), lässt mir ausreichend Spielraum bei Blende und ISO, fokussiert sehr schnell und akkurat, der Stabilisator ist fast unhörbar und fixiert perfekt (Ich habe kein ruhiges Händchen!) – hey, was will ich mehr?

(Als ich übrigens vergangenes Jahr meine Nikon D750 der D850 vorgezogen hatte, waren ähnliche Überlegungen vorausgegangen. Allerdings war da auch der happige Preis ein Killerargument. Der return on invest ist bei Hobbyfotografen kein Thema, bei mir durchaus.)


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