Was ist eigentlich Perfektion?

Perfektion. Wir alle streben danach. Ständig. Im Job, beim Sport, bei der Ernährung, bei allen möglichen Dingen – und wir Fotografen auch bei der allem, was mit diesem weiten Feld zu tun hat: Equipment und Technik, Aufnahme und Entwicklung, Bearbeitung und Präsentation. — Okay, ich nehme „wir alle“ zurück, denn viele von uns sind bereits einen Schritt weiter und besinnen sich anderer Werte als Perfektion. Vor ein paar Wochen habe ich hierzu etwas getwittert:

Bleiben wir bei der Fotografie. Was ist hier eigentlich Perfektion? Die absolut korrekte Belichtung? Da bin ich bereits raus, denn ich belichte fast grundsätzlich mindestens eine Blende unter dem korrekten Wert. Wie immer bestätigen Ausnahmen diese Regel. Hier zum Beispiel habe ich deutlich überbelichtet, weil die Kamera das helle Weiß des Schneesturms abzudunkeln versucht hätte:

Ist das nun Perfektion? Irgendwie schon und doch auch nicht. Damit könnten wir das Thema bereits beenden, denn der Beweis ist erbracht, dass Perfektion in der Fotografie wenig Platz hat. — Oder doch?

Diskutieren wir doch einfach weiter. Hier habe ich in einer Werkstatt fotografiert – übrigens ein weiteres Genre neben der Feld-, Wald- und Wiesenfotografie, das ich sehr gern mag: Dinge in Szene setzen und mit der Kamera Menschen bei der Arbeit beobachten.

Ist das nun perfekt? Hier ist korrekt belichtet, der Fokus sitzt, der Ausschnitt ist wie gewollt und die Details sind da, wohin sie gehören, wenn man dem Goldenen Schnitt folgt (was ich stets tue, wenn ich nicht bewusst eine Diagonale oder Halbierung wähle).

Seitenblick: Rüdiger Schestag hat zum Goldenen Schnitt ein Video gemacht, das ich empfehlen kann – wie übrigens fast alle seiner Videos.

Ich finde, hier ist nichts perfekt, weil Perfektion in der Regel (ich bin unschlüssig, ob ich immer schreiben soll oder darf) keine Emotionen beinhaltet. Meine Fotos kommen jedoch nie ohne (meine) Emotionen aus. Fühle ich nichts, wenn ich auf ein Motiv anlege, kann ich kein Foto machen. Es geht einfach nicht.

Korrekt versus perfekt

Im vorigen Absatz habe ich es schon angedeutet: Korrekt sollten meine Fotos schon sein, um Gnade vor meiner Selbstkritik zu finden. Schiefe Horizonte sind ein no-go, die Blickführung muss zum Bildaufbau passen, Schärfe im Ganzen und Detailschärfe sind unabdingbar, die Farben müssen der Realität entsprechen (a.k.a. Weißabgleich) und und und. Aber ist das perfekt? Definitiv nicht. Aber – und jetzt kommt das große ABER!

Man darf natürlich spielen und sollte es auch tun. Zu jedem Spiel gehören jedoch Regeln, ohne die ein Spiel chaotisch ist. Niemand möchte einem Fußball- oder Tennisspiel zuschauen, bei dem alle Regeln abgeschafft sind. Um attraktiv zu sein, um verstanden zu werden, muss ein Spiel nachvollziehbar sein. Das gilt beim Sport und auch bei Kunst.

Nur wer die Regeln beherrscht, kann sie brechen

Ein abstraktes Bild kann noch so crazy aussehen – wenn der Maler die Regeln kennt, werden Sie genau seinen Vorstellungen gemäß auf das Bild reagieren. Und das auch dann, wenn er eine oder zwei der Regeln bricht. Alle Regeln zu brechen ist, diplomatisch formuliert, ungeschickt. Picasso hat Gesichter verunstaltet, doch er hat die Elemente auf der Leinwand absolut korrekt und penibel ausgerichtet. Da ist nichts Zufall, das ist Berechnung. Auch die Farben sind exakt aufeinander abgestimmt und folgen der Lehre.

War Picasso perfekt? Sind seine Bilder perfekt? Definitiv nicht. Nicht in dem Sinne, in dem wir Perfektion interpretieren. Und damit sind wir an dem Punkt, zu dem ich wollte: Perfektion ist meiner Überzeugung nach keine Legaldefinition, sondern sie betrifft immer nur Teile, Bereiche, Aspekte. So kann die Anordnung der Elemente in Picassos Bildern perfekt der Goldenen Spirale folgen, die Lehre von Komplementärfarben perfekt umgesetzt sein, der Pinselstrich akkurat verlaufen – und doch werden wir etwas finden, was eben nicht perfekt ist. Ich behaupte, das ist der Moment, an dem der Maler die Staffelei seinem Gefühl überlassen hat.

Wir sollten Imperfektion lernen, nicht Perfektion

Wir Fotografen können viel von den „alten Meistern“ lernen, deshalb gehen wir, wenn wir klug sind, öfter in Museen als in Ausstellungen zeitgenössischer Fotografen. Ich gestehe, es gibt wenige noch lebende Fotografen, deren Arbeiten mich faszinieren. Aber es gibt viele schon einige Jahrhunderte tote Maler, die das tun. Woher hatten die ihr Wissen? Haben sie mehr nachgedacht als wir? Haben sie mehr Zeit investiert? Mag sein. Ist ganz sicher so.

Mir wird immer wieder klar, dass Geduld der Schlüssel ist. Öfter mal ohne Kamera losziehen. Erst durch den Sucher schauen, wenn das Motiv identifiziert und die Perspektive gewählt wurde sowie einem die erwünschte und zu erwartende Wirkung klar ist. Nicht einfach so und ohne wirkliche Überzeugung ein Foto machen, nur weil man es wieder wegwerfen kann, denn es kostet schließlich nichts. Mein Fazit fällt also – mal wieder – zugunsten der „gefühlvollen“ Fotografie aus:

Sehen. Spüren. Sich die Regeln bewusst machen. Und dann erst, ganz zuletzt, die Kamera zur Hand nehmen. Sie ist nur ein Werkzeug.


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