Auch ein Bild hat Gefühle

Oft suchen wir nach Motiven und finden sie nicht. Sie stehen oder laufen vor der Linse herum, doch immer wenn wir sie festhalten wollen scheinen sie zu verschwimmen, unscharf zu werden, aus dem Bild zu huschen, farblos und konturlos zu werden. Was wir auch versuchen, das Objekt, das wir auf unsere Sensoren oder auf einen Film verewigen wollen, ist nicht greifbar. Unsere Augen sehen es, doch unser Gefühl kann es nicht erfassen. 

Alles, was wir unter diesen Voraussetzungen fotografieren, können wir auch unfotografiert lassen – wir sollten es sogar. Der Grund ist ein ebenso ein psychologischer wie ein philosophischer: Was man nicht fühlt, was einen nicht berührt, passt nicht zu einem. Das kann ein Mensch sein oder ein Tier, aber auch ein Job, eine Wohnung, oder eben ein Foto. Es kann das falsche Motiv sein, aber auch der falsche Zeitpunkt oder einfach nur die falsche Perspektive. Die Perspektive können wir ad hoc verändern, die Tages- oder auch Jahreszeit für entsprechende Lichtverhältnisse und das geeignete Wetter – alles in allem also die passenden Verhältnisse – erfordern entweder eine aufwändigere Recherche  oder die Fähigkeit zu antizipieren. 

Die Erfahrung lehrt uns das Warten

Mit mehr Erfahrung bekommen wir das Gefühl dafür, ob sich ein Experimentieren lohnt. (Und wieder sind wir beim Gefühl statt beim Verstand, Sie merken das schon, gell?) Nicht selten müssen wir einfach auf die richtige Gelegenheit warten. Klar, wir werden das Foto machen, allein deshalb, um bestätigt zu bekommen, dass es nichts geworden ist. Wenn uns dieses nicht gemachte oder misslungene Bild dann umtreibt, sind wir keine Knipser mehr, sondern Fotografen. Wir haben gelernt, dass der alte Spruch „gut Ding will Weile haben“ eben doch stimmt.

An diesem Baum bin ich in den vergangenen Jahren -zig Mal vorbeigelaufen. Weil ich ihn schon lange als potenzielles Motiv wahrgenommen hatte, schaute ich ihn jedes Mal mit diesem kritischen Fotografenblick an und schätzte meine Chancen auf ein Bild ab. Erstaunlich, wie sich dieser Baum zierte! Manchmal schien er sich zu tarnen und völlig mit seinem Umfeld zu verschwimmen, oft stand er einfach nur da rum und schaute gelangweilt über die Wiesen und Felder.

Vor ein paar Tagen aber hatte er beschlossen, dass er bereit war, sich fotografieren zu lassen. Es regnete so stark, dass ich nach einer halbstündigen Runde durch eines meiner Lieblingsreviere durchnässt war bis auf die Haut. Ich hatte bereits ein, zwei recht brauchbare Fotos gemacht und war auf dem Weg zum Auto. Da stand dann der Baum, der sich stets so unnahbar gegeben hatte und präsentierte sich wie eine Diva. Ich brauchte nur noch auszulösen, denn wie ich das Foto machen würde, wenn es denn jemals soweit sein würde, wusste ich seit Jahren.


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